Traditionelle Gastfreundschaft und das Neypo-Netzwerk in Bhutan

„Der Gast einer Nacht ist wie ein Gott“ bhutanisches Sprichwort

Von Ulrike Cokl

Im Königreich Bhutan durchdringt die Gastfreundschaft jeden Bereich des gesellschaftlichen Lebens, ob privat oder öffentlich: sie ist Teil (religiöser) Feste, von Ritualen, Übergangsriten von der Geburt bis zum Tod und aller Arten politischer und gesellschaftlicher Zusammenkünfte. Vom gemeinsamen Essen und Trinken, Singen und Tanzen bis hin zum Austausch von Geschenken, Waren und Dienstleistungen sind Traditionen der Gastfreundschaft für die Bereicherung und Pflege von Beziehungen (Thuenlam) auf allen Ebenen der Gesellschaft grundlegend. Deshalb sind sie von großer Bedeutung für die Vitalität, das psychische Wohlbefinden und die Kultur einer Gemeinschaft, die drei der neun Bereiche des Bruttonationalglücks (BNG) darstellen.
Offizielle Veranstaltungspraktiken basieren auf der Etikette des Driglam Namzhag („System geordneten und kulturellen Verhaltens“) wie es von Zhabdrung Ngawang Namgyal (1594-1651) formuliert wurde.
Dieser Artikel möchte einen kleinen Einblick in die alltägliche Gastfreundschaft bhutanischer Gemeinschaften geben. Er basiert auf ethnografischen Untersuchungen, die sich hauptsächlich auf Bumthang in Zentralbhutan und Lhuentse in Ostbhutan beschränken.

Das Neypo-Netzwerk

Neypo ist ein Netzwerk aus Gastgeber- und Gastbeziehungen und gilt als wichtigstes Mittel zur Aufrechterhaltung der Bindungen zwischen Gemeinschaften in verschiedenen Tälern Bhutans. Das Neypo-Netzwerk erstreckte sich einst über das ganze Land und sogar über seine Grenzen hinaus. Wenn Dorfbewohner in ein anderes Tal zogen, kehrten sie normalerweise bei ihren Gastfamilien ein, den Neypos.
Seit Anfang der 1960er Jahre ist dieses System aufgrund der zunehmenden sozio-ökonomischen und infrastrukturellen Entwicklung allmählich im Schwinden. Doch im entlegen Osten Bhutans besteht das Neypo-System noch immer, insbesondere unter den Yakhirten. Sie steigen jedes Jahr von ihren hochgelegenen Weiden in die Tiefebene hinab, um Butter, Käse und Stoffe aus Yakwolle gegen Reis, Chili und Mais einzutauschen, die auf den Feldern ihrer Gastgeber angebaut werden. Die Bindungen zwischen den Familien von Gast und Gastgeber waren sehr herzlich und die Beziehungen wurden über Generationen aufrechterhalten. Die jeweiligen Familien betrachteten einander als Verwandte und in einigen Fällen stehen sie noch immer in Kontakt, obwohl die saisonalen Wanderungen schon lange aufgegeben wurden.
Während Gastgeber in Dzongkha (der Landessprache)‚neypo‘ bedeutet, bezeichnen die Bumthap sie je nach lokalem Dialekt als ‚nadpo‘ oder ‚naspo‘. Die Menschen aus Pema Gatshel im Südosten hingegen pflegten grenzüberschreitende Gastfreundschaften zu Assam und bezeichneten ihre Gastgeber mit dem assamesischen Begriff ‚shazi‘. Der Begriff ‚neypo‘ ist jedoch in ganz Bhutan allgemein bekannt und gebräuchlich.

Reisen im bhutanischen Stil

„Wenn wir das Lager erreichen, sollten wir keinen Lärm machen. Sonst drohen plötzlich starker Wind und Hagelstürme. Wir sollten kein Fleisch braten und kein Curry überlaufen lassen. Nichts im Feuer verbrennen, da dies ernsthafte Probleme wie plötzliche starke Winde und Hagelstürme verursachen kann, die sehr beängstigend sind. (Ein Dorfbewohner in Bumthang)

Saisonale Wanderungen zwischen höher und niedrig gelegeneren Wirtschaftszonen waren wichtige Aktivitäten in der ländlichen Subsistenzwirtschaft in Bhutan. Ein alter Mann in Lhuentse beschrieb sehr anschaulich wie die benachbarten Bumthap wie ein „Bienen-schwarm“ in sein Tal strömten, um zu tauschen, zu betteln, Handel zu treiben und Nachlese zu halten!
Die Hauptgründe der alljährlichen Reisen zwischen Bumthang und Lhuentse waren:
a) Pilgernneykor
b) Tauschhandel jesor und Handel tshongdrel als Teil der Bewegung von Vieh und dem Austausch von Erzeugnissen zwischen Weiden in höheren und niedrigeren Zonen
c) Sammeln von Nahrungsmitteln/Bettelngrendo gaisang oder Nachlesesaktum tum sang  („Reste aufsammeln“)
d) Soenyum – das Sammeln von Nahrungsmitteln der Mönche und Lamas und als Teil umfassenderer religiöser Transaktionen

Brokpa Ostbhutan

 

Die Bumthap gingen bis in den benachbarten Bezirk Trongsa für den Tauschhandel, die saisonalen Wanderungen der Layaps und Lunaps aus Gasa führten in die Tiefebene von Punakha und der Merakpa und Saktengpa (Brokpa) ging von den Hochweiden hinunter in den Tashigang Dzongkhag zur Nahrungsbeschaffung und den Nahrungsaustausch.

Früher wurden Fußwege durch häufige Benutzung gut instandgehalten und von manchen Dorfbewohnern als traditionelle „Autobahnen“ bezeichnet. Doch vor Antritt einer Reise musste der Astrologe Tsip konsultiert werden, um einen günstigen Tag (Zakar) für den Reiseantritt zu bestimmen.
Reisende mussten darauf achten, die lokalen Gottheiten der heiligen und spirituell bewohnten Landschaften, die sie durchquerten, nicht zu vernachlässigen. Gute Beziehungen zu den sogenannten Neydag (spirituelle Grundbesitzer heiliger Orte) und Zhidag (allgemeine spirituelle Grundbesitzer von Landschaften wie Bergpässen) sind auch heute noch wichtig, damit diese lokalen Gottheiten und Geister Reisenden oder ihren Lasttieren keinen Schaden zufügen und vielleicht sogar günstige Bedingungen für die Reise schaffen. Die Pflege der Beziehungen zu den Geistern und Gottheiten kann als Teil der Gastfreundschaft betrachtet werden, da bestimmte Regeln und moralische Verpflichtungen das Verhalten beim Durchqueren des Territoriums spiritueller Landbesitzer, die als lokale Gastgeber (Neypos) gelten, regeln.

Beispielsweise benötigen Reisende bei einer Übernachtung die Erlaubnis der lokalen Gottheit; üblicherweise geschieht dies durch die Darbringung von Sang (Weihrauch). Manche Aktivitäten gelten als tabu, wie das Verbrennen „unreiner“ Gegenstände über offenem Feuer, darunter Fleisch und Knoblauch, und heutzutage auch moderner Schadstoffe wie das allgegenwärtige Plastik. Dadurch entstehen ‚Drip‘, Unreinheiten, die die lokalen Gottheiten verärgern. Auch überkochende Milch und Currys, die ins Feuer gelangen, gelten als unrein. Beim Erreichen eines Passes wird den lokalen Gottheiten ein Serkyem (ein Alkoholopfer) dargebracht. Vielleicht trinken die Reisenden auch eine Tasse Ara, den lokalen Schwarzgebrannten, der meist aus Weizen oder Mais hergestellt wird, gefolgt von einem obligatorischen Nachschlag, dem Dron. So besänftigen ein oder zwei Tassen Ara nicht nur die lokalen Gottheiten, sondern verhelfen den Reisenden auch zu „leichteren Füßen“.

Gastfreundschaft: Empfang, Bewirtung und Verabschiedung

„Wenn wir einen Gastgeber besuchen, sagen die anderen: ‚Kommt doch auch zu mir! Warum kommt ihr nicht?‘ Und wenn wir dorthin gehen, sagt ein anderer: ‚Kommt doch auch zu mir!‘ Wir müssen also jeden Gastgeber besuchen. Zuerst wird uns Ara zur Begrüßung angeboten. Das Ara, das sie [die Gastgeber] geben, ist obligatorisch. Tee anzubieten ist jedoch nicht obligatorisch; manchmal bieten sie Tee an, manchmal nicht. Also bieten sie uns zuerst Ara an, dann ruhen wir uns aus. Dann unterhalten wir uns. Erst danach geben wir der Gastfamilie unsere Chodma [Geschenke]. Wir essen, und dann geben sie uns Lamju [ein Abschiedsgeschenk für die Reise]. Diese kleinen Lamju werden mehr, je mehr Gastgeber wir besuchen. Irgendwann wird es für uns schwierig, unsere Lasten zu tragen.“ (Ein Dorfbewohner aus Bumthang)

Als die Bumthap das Haus ihres Neypo in Lhuentse erreichten, wurden sie herzlich empfangen als wären sie Familienmitglieder. Die Gastgeber halfen den Reisenden beim Auspacken ihrer Pferde und geleiteten ihre Gäste ins Haus. Die Reihenfolge der servierten Getränke war je nach Region leicht unterschiedlich. Meistens wurde zuerst Ara angeboten, dann Tee „Ja“ – falls verfügbar Buttertee ‚Suja‘. heutzutage wird auch süßer Tee ‚Ngaja‘ angeboten. Nach einem Imbiss wurde Mittag- oder Abendessen serviert.
Zwischendurch boten die Gäste ihr Choom an, ein Geschenk, das man für den Gastgeber mitbringt. Wie das Sprichwort in Bumthangkha sagt: „Yag thongpa minla tsamtek “ – „Gerade genug, damit ich nicht mit leeren Händen dastehe“. Der Begriff Choom impliziert, dass das Geschenk für jemanden ist, der als gleichwertig angesehen wird. Wenn die Bumthap nach Lhuentse reisten, brachten sie normalerweise getrocknete Rübenblätter Loma, Weihrauch Sangzey, Frischkäse Phrum oder getrockneten Käse Tedpa oder Tespa und geröstetes Gerstenmehl Thru mit.
Nach ihren ausgedehnten Reisen in die verschiedenen Dörfer in Lhuentse kehrten sie mit Reis Chhum, Mais Asham, Chili Bangala, Trockenfrüchten und manchmal Hefe Phab nach Hause zurück.
Im Idealfall sollten Gastgeber ihren Gästen gegenüber Großzügigkeit und Selbstlosigkeit zeigen. Von Gästen mit höherem Status wird erwartet, dass sie die erhaltene Gastfreundschaft mit einem Soelra (Abschiedsgeschenk oder Trinkgeld erwidern. Dann erhalten sie von ihren Gastgebern erneut ein Lamju, ein Abschiedsgeschenk für die Reise, oft Alkohol und etwas zum Essen.

In Ostbhutan ist Tshogchang eine traditionelle Begrüßungszeremonie mit der lokale Gemeinschaften Gäste empfangen. Ein Mitglied jedes Haushalts bringt etwas Ara, Snacks und Eier mit und trifft sich dort, wo die Gäste wohnen, um eine „Ara-Sitzung“ mit ihnen abzuhalten. Ara wird mit Ei und Butter erhitzt und dann mit den Gästen geteilt. Tshogchang wird oft von Scherzen, Gesang und Tanz begleitet und dauert oft bis spät in die Nacht. Nach dem Tshogchang sollten die Gäste den Personen, die den Tshogchang organisiert und dazu beigetragen haben, etwas Geld als Soelra überreichen. Der Betrag hängt von den Gästen ab, sollte aber mindestens dem Wert der Spende entsprechen.

Dies ist ein kurzer Bericht über traditionelle Gastfreundschaft und über traditionelles Reisen in Bhutan. Er zeigt, wie das Neypo-System einen Rahmen für einen anspruchsvollen Austausch bietet. Durch das Neypo-System sind die Bhutaner zu Experten im Bewirten und Unterhalten von Gästen geworden und sie bestehen seit Jahrhunderten. Obwohl einige dieser Praktiken verschwinden, haben sich viele weiterentwickelt und angepasst und sind nach wie vor wichtig für die sozialen Beziehungen in Bhutan und den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Das Verständnis für die Bedeutung guter Beziehungen, Thuenlam, für Bräuche und Sitten in Bhutan ist von enormem Nutzen für die Entwicklung eines nachhaltigen ländlichen Tourismus. Dies gilt umso mehr, wenn solche Praktiken in die bestehenden Traditionen integriert und darin verwurzelt sind.

Auszug aus der Thuenlam-Doktorarbeit von Ulrike Čokl, University College London (UCL), Großbritannien, Abteilung für Anthropologie. Von 2012 bis 2015 war sie in Bhutan am College of Natural Resources (CNR) der Royal University of Bhutan (RUB) tätig. Ulrike Cokl lebt seit über 16 Jahren zeitweise in Bhutan.

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